Inhalt und Rechtspolitische Bedeutung der 'Einleitung' des ABGB im Kontext der Kodifikationsgesetzgebng des Frühen 19º Jahrhunderts

AutorThomas Simon
CargoProfessor für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Wien
Páginas47-82
Inhalt und Rechtspolitische Bedeutung der
“Einleitung” des ABGB im Kontext der
Kodifikationsgesetzgebng des Frühen 19º
Jahrhunderts1
Content and Legal-political Significance of “Introduction” of the German Civil
Code in Context of Legislative Consolidation in Early Nineteenth Century
Thomas Simon
Zusammenfassung: Wirft man einen Blick auf
den Beginn des österreichischen ABGB, dann
findet sich dort zunächst eine sog. „Einleitung“.
Die „Einleitungen“ der naturrechtlichen Kodifi-
kationen, insbesondere die Interpretationsvors-
chriften, sind Ausdruck eines justizpolitischen
Konflikts, der vor allem seit der zweiten Hälfte
des 18. Jh.s rasch an Schärfe zunahm und dann
das Verhältnis zwischen monarchischem Gesetz-
geber und Justiz bis in die zweite Hälfte des 19.
Jh.s bestimmt hat. Hinter der Umstellung auf ein
kodifiziertes Recht seit dem ausgehenden 18. Jh.
stand dann der Anspruch des Staates, hinfort sel-
bst das Recht hervorz ubringen. Der Justiz wur-
de dabei die Rolle einer bloß „rechtsanwenden-
den“ Instanz zugewiesen. In dem Aufsatz wird
gezeigt, welche Konflikte zwischen Politik und
Justiz daraus entstanden und wie der Staat die
Justiz zu disziplinieren suchte.
Stichworte: Kodifikation. Rechtsprechung. Ge-
setzgebung.
Abstract: If one looks at the beginning of the
Austrian ABGB, one finds a so-called “Ein-
leitung”, ie. introduction, first. Those intro-
ductions are the expression of a conflict about
judicial policy starting to gain momentum in
the second half of the 18th century and domi-
nating relations between the monarchic legis-
lator and the judiciary until the second half of
the 19th century. Beneath the change towards
a codified law since the late 18th century is the
demand of the state to from now on create the
law on its own. The judiciary was allocated the
mere role of a purely norm-applying instance.
In this article, it is shown which conflicts be-
tween politics and judiciary resulted from this
view and how the state tried to discipline the
judiciary.
Keywords: Codification. Jurisprudence. Legis-
lation.
1 Recebido em: 19/10/2012.
Aprovado em: 23/02/2013.
Doi: http://dx.doi.org/10.5007/2177-7055.2013v34n66p47
Inhalt und Rechtspolitische Bedeutung der “Einleitung” des ABGB im Kontext der Kodifikationsgesetzgebung des Frühen 19º.
48 Seqüência (Florianópolis), n. 66, p. 47-82, jul. 2013
1 Einführung
Vergleicht man die österreichische und die deutsche Zivilrechtsko-
difikation in ihrem Aufbau und ihrer Gliederung, dann fällt als erstes der
ganz unter-schiedliche Eingang der Kodifikation ins Auge: Das deutsche
BGB beginnt sofort ohne jede Präliminarien mit materiellrechtlichen Re-
gelungen, die den Bereich der subjektiven Rechte des Einzelnen und die
Bedingungen für deren Begründung, Erwerb und Übertragung betreffen.
Wirft man demgegenüber einen Blick auf den Beginn des österreichis-
chen ABGB, dann findet sich dort zunächst eine sog. »Einleitung«. Die
14 Paragraphen dieser »Einleitung« enthalten kein materielles Zivilrecht
im heutigen Sinn; einigen davon würde man heute den Charakter als »Re-
chtsnorm« generell absprechen.
Solche Einleitungen sind ein typisches Element der frühen Kodifi-
kationen in der europäischen Rechtsgeschichte, also jener ersten Gene-
ration umfas-sender und abschließender Gesetzbücher, die noch im Zei-
chen des Natur-rechts stehen und der auch das ABGB zuzurechnen ist.
Die »Einleitungen« beschäftigen sich in erster Linie mit der Institution
des Gesetzes. Es sind im Wesentlichen drei Gegenstände, die den Ein-
leitungsteilen ihr Gepräge geben: Einen Regelungsschwerpunkt bildet die
Wirksamkeit der Gesetze: Von wel-chem Zeitpunkt an entfalten sie ihre
Wirksamkeit insbesondere auch gegen-über denjenigen, die behaupten,
das Gesetz nicht zu kennen?2 Hier werden typischerweise auch die Frage
der Rückwirkung und die Geltung des Gesetzes im Ausland behandelt.3
Der zweite Regelungsschwerpunkt betrifft den Um-gang der Geri-
chte mit dem Gesetz bei dessen Anwendung, vor allem das heikle Pro-
blem der »Auslegung« und des Umgangs mit Lücken im Gesetz.4 In ei-
nem dritten Regelungsschwerpunkt schließlich geht es um das Verhältnis
des Gesetzes zu anderen Normquellen, die dessen normative Kraft in Fra-
ge stellen könnten. Als solche konkurrierende Normquellen werden vom
2 §§ 2–5 und 9 ABGB.
3 § 4 ABGB.
4 §§ 6–8 ABGB.
Thomas Simon
Seqüência (Florianópolis), n. 66, p. 47-82, jul. 2013 49
ABGB vor allem die »Gewohnheiten«,5 die »Provinzialstatuten«,6 richter-
liche Urteile7 und endlich die Privilegien8 ins Visier genommen; im ALR
treten die landes-herrlichen Verordnungen daneben.9
Ein Großteil dessen zählt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht
mehr zum materiellen Zivilrecht. Die Regelungsgegenstände der »Einlei-
tungen« werden nunmehr überwiegend – soweit man sie überhaupt noch
als Rechts-normen auffasst – als Teil des öffentlichen Rechts verstanden.
Die Auslegungs-vorschriften hingegen werden gar nicht mehr als
eigentliche Rechtsnormen qualifiziert; sie finden sich fortan nur noch in
den Lehrbüchern der juristi-schen Methodenlehre.
Die »Einleitungen« der naturrechtlichen Kodifikationen sind Aus-
druck eines justizpolitischen Konflikts, der vor allem seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts rasch an Schärfe zunahm und dann das Ver-
hältnis zwischen monarchischem Gesetzgeber und Justiz bis in die zweite
Hälfte des 19. Jahr-hunderts bestimmte. Bedingt war dieser Konflikt vor
allem dadurch, dass der Staat im 18. Jahrhundert nicht mehr bereit war,
das traditionelle Rollenver-ständnis der Justiz zu akzeptieren.10
Dies wiederum hing mit dem tiefgrei-fenden Wandel des Rechts-
systems zusammen, wie er seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert über
die Bühne ging, aber zuvor schon rege diskutiert worden war: Gemeint ist
die Umstellung von einem gewohnheitsrechtlichen auf ein ausschließlich
von der Gesetzgebung geprägtes Rechtssystem, wie es in der Kodifika-
tionsidee angelegt war. Es liegt auf der Hand, dass der Wandel von einer
gewohnheitsrechtlichen, auf einem komplizierten Rechtsquellen-plura-
lismus basierenden Rechtsordnung hin zu einem vereinheitlichten kodi-
-fikationszentrierten Rechtssystem auch elementare Auswirkungen haben
muss auf das Verhältnis zwischen gesetzgebenden und normanwendenden
Instan-zen. Denn in der vormodernen Rechtskultur ist die Justiz selbst die
5 § 10 ABGB.
6 § 11 ABGB
7 § 12 ABGB.
8 § 13 ABGB.
9 § 5 Einleitung.
10 Dazu eingehend Schott (1975), S. 74 ff.

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